Ungerechtfertigte fristlose Kündigung: Bagatellisierung von sexueller Belästigung?

Das Obergericht des Kantons Aargau hat in einem kontroversen Urteil (ZOR.2024.18) eine fristlose Kündigung für ungerechtfertigt erklärt – und damit eine Signalwirkung gesetzt: Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz scheint nicht als schwerwiegender Verstoss zu gelten, wenn sie nicht über ein bestimmtes Mass hinausgeht. Eine Einschätzung, die gerade in Zeiten verstärkter Sensibilisierung für dieses Thema Fragen aufwirft.
Hintergrund des Falls
Ein technischer Verkaufsberater wurde nach über drei Jahren Betriebszugehörigkeit fristlos entlassen, nachdem er einer Arbeitskollegin eine Nachricht geschickt hatte: "Aber Du bist wirklich eine wunderschöne Frau [küssendes Emoji] Leider für mich unerreichbar [Affen-Emoji, das sich mit beiden Händen die Augen zuhält]". In einem späteren Telefonat mit einer anderen Kollegin machte er eine zweideutige Bemerkung über die besagte Kollegin: er wolle sie, aber nicht nur am Telefon… sie sei für ihn jedoch nicht erreichbar. Die Arbeitgeberin reagierte umgehend mit einer fristlosen Kündigung.
Doch das Obergericht kippte diese Entscheidung: Die Entlassung sei ungerechtfertigt, weil eine solche Kündigung nur bei besonders schweren Verfehlungen oder wiederholten Verstössen nach einer Verwarnung zulässig sei. Beides sei hier nicht gegeben.
Rechtslage: Fristlose Kündigung als "ultima ratio"
Gemäss Art. 337 OR kann ein Arbeitsverhältnis nur dann fristlos aufgelöst werden, wenn dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses nicht mehr zumutbar ist. Das Bundesgericht hat mehrfach betont, dass eine fristlose Kündigung die "ultima ratio" sein muss – also das letzte Mittel, wenn keine weniger drastischen Massnahmen ausreichen.
Das Obergericht entschied, dass die Vorfälle zwar problematisch seien, aber nicht schwerwiegend genug, um eine sofortige Entlassung zu rechtfertigen. Besonders erstaunlich: Obwohl die Belästigung unbestritten war, wurde sie als nicht schwer genug eingestuft. Für das Obergericht sei zweifelhaft, ob es sich bei den Nachrichten (auf Facebook und telefonisch) um sexuelle Belästigung handle. Sie erlaubten auch eine andere Interpretation. Zudem habe der Arbeitgeber keine Verwarnung ausgesprochen oder eine andere disziplinarische Massnahme ergriffen. Dass sich dies im Kontext von sexueller Belästigung problematisch auswirken kann – da Betroffene oft erst spät den Mut finden, Vorfälle zu melden –, blieb weitgehend unberücksichtigt.
Was bedeutet dieses Urteil für Arbeitnehmer und Arbeitgeber?
Für Arbeitnehmer:
Eine fristlose Kündigung muss gut begründet sein. Wer plötzlich ohne Lohn und ohne Abgangsentschädigung auf der Strasse steht, sollte rechtliche Schritte in Betracht ziehen.
Gleichzeitig könnte dieses Urteil dazu führen, dass sich Betroffene von sexueller Belästigung weniger ernst genommen fühlen.
Für Arbeitgeber:
Vorsicht bei fristlosen Kündigungen! Wer voreilig und ohne gründliche Prüfung des Sachverhalts handelt, riskiert hohe Entschädigungszahlungen.
Doch das Urteil zeigt auch: Arbeitgeber müssen sich darauf einstellen, dass selbst bei Vorwürfen sexueller Belästigung hohe Hürden für eine sofortige Kündigung bestehen. Das könnte dazu führen, dass Unternehmen künftig zögern, gegen übergriffiges Verhalten konsequent vorzugehen.
https://gesetzessammlungen.ag.ch/app/de/decrees/9674
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