Bundesgerichtsurteil 5A_801/2022: Wichtiger Entscheid zu Beginn, Berechnung und Dauer des nachehelichen Unterhalts

Im Urteil 5A_801/2022 hatte das Bundesgericht im Wesentlichen über drei Teilaspekte des nachehelichen Unterhalts zu entscheiden: Ab welchem konkreten Zeitpunkt beginnt die Unterhaltspflicht zu laufen? Welche Kriterien sind bei der Anrechnung von hypothetischem Einkommen seitens des Unterhaltsgläubigers zu beachten? Und nach welchen Grundprinzipien ist über eine zeitliche Befristung des nachehelichen Unterhalts zu entscheiden?

Nachdem der Eheschutzrichter des Bezirksgerichts Höfe (SZ) Obhut sowie Kindes- und Ehegattenunterhalt Ende November 2016 festgelegt hatte, liessen sich die Ehegatten am 30. April 2021 scheiden. Gegen das Scheidungsurteil erhoben beiden Parteien Berufung an das Kantonsgericht Schwyz. Die Parteien verlangten eine Abänderung der nachehelichen Unterhaltsbeiträge. Während die Unterhaltsgläubigerin eine Erhöhung der Beträge forderte, verlangte der Unterhaltsschuldner, ab dem 16. Altersjahr des gemeinsamen Sohnes keinen nachehelichen Unterhalt an die Kindsmutter mehr leisten zu müssen. Die zweite Instanz bestätigte das vorinstanzliche Urteil hinsichtlich der Höhe der festgesetzten Unterhaltsbeträge, kam jedoch zum Schluss, dass ab dem 16. Altersjahr des gemeinsamen Sohnes keine nachehelichen Unterhaltsbeträge mehr geschuldet seien. Daraufhin wandte sich die Kindsmutter mit Beschwerde vom 17. Oktober 2022 an das Bundesgericht.

Zum einen rügte die Beschwerdeführerin, dass die Vorinstanz ihr in willkürlicher Weise die Unterhaltsbeiträge erst per 1. Januar 2023 und nicht schon bereits ab Rechtskraft des Urteils (13. September 2022) zusprach.

Mit Bezugnahme auf gefestigte scheidungsrechtliche Rechtsprechung zeigte das Bundesgericht auf, dass die Unterhaltsbeitragspflicht mit Eintritt der formellen Rechtskraft des Scheidungsurteils beginnt. Es sei auch möglich, die Unterhaltspflicht rückwirkend auf einen Zeitpunkt vor dem Eintritt der formellen Rechtskraft des Urteils – so z.B. auf den Zeitpunkt einer Teilrechtskraft – festzusetzen. Im obergerichtlichen Urteil wurde der Beginn der Unterhaltspflicht jedoch auf einen Zeitpunkt nach Eintritt der formellen Rechtskraft gelegt. Dadurch entsteht eine Unterhaltslücke im Zeitraum zwischen 13. September 2022 (formelle Rechtskraft obergerichtliches Urteil) und 1. Januar 2023 (Beginn Unterhaltspflicht). Bis zum Scheidungszeitpunkt gelten die Unterhaltsregelungen gemäss vorsorglicher Massnahmen aus dem Eheschutzverfahren. Diese Regelungen werden mit der formellen Rechtskraft des Scheidungsurteils aufgehoben. Sind Unterhaltszahlungen erst auf einen späteren Zeitpunkt geschuldet, entsteht die genannte Unterhaltslücke.

Zum anderen beanstandete die Beschwerdeführerin die Höhe des hypothetischen Einkommens, das ihr durch die Vorinstanz angerechnet wurde.

Gemäss höchstgerichtlicher Rechtsprechung kann einem Ehegatten, der seine Erwerbskraft nicht voll ausschöpft, ein hypothetisches Einkommen angerechnet werden, das bei der Berechnung des nachehelichen Unterhalts miteinbezogen wird. Die Erwirtschaftung dieses Einkommens muss sowohl zumutbar als auch tatsächlich möglich sein. Die Vorinstanz stellte fest, dass die Beschwerdeführerin eine totale hypothetische Erwerbsfähigkeit von 80% aufweist. Aufgrund einer lumbovertebralen Schmerzerkrankung besteht eine 20%-ige Erwerbsunfähigkeit. Die Beschwerdeführerin bestreitet die Möglichkeit und Zumutbarkeit einer 80%-igen Erwerbsfähigkeit; die Vorinstanz habe ihre ärztlichen Berichte und Diagnosen nicht genügend berücksichtigt. Demgegenüber kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass es der Beschwerdeführerin nicht gelingt, fundiert genug darzutun, weshalb die 80%-ige Erwerbstätigkeit sowohl nicht zumutbar als auch nicht möglich wäre. So geben die von der Beschwerdeführerin eingereichten Berichte von Rheumatologen und Psychotherapeuten keine konkreten Angaben zu ihrer Arbeitsfähigkeit, geschweige denn, dass diese weniger als 80% betragen soll. Bezüglich der tatsächlichen Möglichkeit, ein hypothetisches Einkommen zu erwirtschaften, kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass die Beschwerdeführerin keine Willkür in der Sachverhaltsfeststellung nachweisen kann. Die Beschwerdeführerin legt nicht genügend dar, weshalb es ihr unmöglich sei, einer Arbeit als kaufmännische Angestellte oder Praxisangestellte mit angemessener rückenschonender Wechselbelastung nachzugehen.

Weiter hat die Vorinstanz den Wechsel von einer hypothetischen Erwerbsfähigkeit von 50% auf 80% gemäss Schulstufenmodell per 01.08.2023 angesetzt. Vor Bundesgericht forderte die Beschwerdeführerin, dass ihr eine längere Übergangsfrist zu gewähren sei. Wegen der Lebensprägung der Ehe könne eine hypothetische Erwerbsfähigkeit von 80% erst per 2026 angenommen werden, wodurch der nacheheliche Unterhalt bis dahin höher auszufallen habe. Diesbezüglich betont das Bundesgericht, dass der Faktor der Lebensprägung für die Frage, ob und wie lange nachehelicher Unterhalt geschuldet ist eine Rolle spielt, nicht aber zur Beurteilung der Höhe des nachehelichen Unterhalts. Es diene der Beschwerdeführerin daher nicht, sich diesbezüglich auf die Lebensprägung der Ehe zu berufen. Eine längere Übergangsfrist lässt sich laut Bundesgericht insbesondere nicht rechtfertigen, da die Beschwerdeführerin seit dem Entscheid des Eheschutzgerichts 2019 wusste, dass von ihr erwartet wird, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen und auch auszubauen. Bis zum vorliegenden Bundesgerichtsentscheid hatte die Beschwerdeführerin mithin vier Jahre Zeit, ihre Eigenversorgungskapazität aufzubauen und auszuweiten.

Schliesslich forderte die Beschwerdeführerin, die nacheheliche Unterhaltspflicht sei nicht nur bis zum Erreichen des 16. Altersjahrs des gemeinsamen Sohnes, sondern bis zum Eintritt ihres ordentlichen Rentenalters festzusetzen.

Unter Bezugnahme auf Art. 125 Abs. 1 ZGB erläutert das Bundesgericht, dass die nacheheliche Unterhaltspflicht davon abhängt, ob eine Ehe für den potenziellen Unterhaltsgläubiger als lebensprägend anzusehen ist. Eine Ehe hat das Leben eines Ehegatten in entscheidender Weise geprägt, wenn dieser auf die Verfolgung der eigenen Karriere verzichtete, sich stattdessen dem Haushalt und/oder gemeinsamen Kindern widmete oder dem anderen Ehegatten jahrelang den Rücken freihielt, damit sich dieser ungeteilt auf sein berufliches Fortkommen und der damit verbundenen Steigerung des Familieneinkommens fokussieren konnte. Gesamtheitlich betrachtet muss eine gemeinsame Lebensplanung bestanden haben, um auf Lebensprägung schliessen zu können. Vor diesem Hintergrund kam das Bundesgericht zum Schluss, dass die Ehe mit dem Beschwerdegegner lebensprägend war. Demgegenüber schliesst eine lebensprägende Ehe eine angemessene zeitliche Begrenzung der nachehelichen Unterhaltspflicht hingegen nicht pauschal aus. Für die Bemessung einer angemessenen Unterhaltsdauer sind die in Art. 125 Abs. 2 ZGB genannten Kriterien zu berücksichtigen. So spielt die Dauer des ehelichen Zusammenlebens eine Rolle: je kürzer eine Ehe gelebt wurde, desto weniger lange ist in der Regel die Unterhaltspflicht aufrechtzuerhalten. Weiter spielt eine Rolle, ob sich die ehebedingte Aufgabenteilung besonders günstig auf die Einkommenssituation des potenziellen Unterhaltsschuldners ausgewirkt hat. Kann der Unterhaltsschuldner nach der Scheidung noch immer von seiner beruflichen Entwicklung profitieren, rechtfertigt dies eine längere Unterhaltspflicht. Überdies ist zu berücksichtigen, ob der Unterhaltsgläubiger in der Lage ist, seine hypothetische Erwerbskraft - das heisst, wie viel er oder sie verdienen würde, wenn er oder sie nicht aufgrund der gemeinsamen Lebensplanung seine Arbeitstätigkeit eingeschränkt hätte - herzustellen und auszuschöpfen. In diesem Zusammenhang sind allfällige Erwerbsbehinderungen wie Kinderbetreuung zu berücksichtigen. Das Bundesgericht kommt diesbezüglich zum Schluss, dass selbst bei einer kurzen Ehe der Anspruch auf nachehelichen Unterhalt grundsätzlich bis zum vollendeten 16. Altersjahrs des jüngsten gemeinsamen Kindes besteht. Weiter sind für die Bemessung der Unterhaltsdauer gemäss Bundesgericht seitens des Unterhaltsgläubigers Alter, Gesundheitszustand, Dauer des Erwerbsunterbruchs, Art der Ausbildung, frühere berufliche Tätigkeiten und Dauer der beruflichen Tätigkeit vor Erwerbsunterbruch zu berücksichtigen.
Unter Berücksichtigung der vorgenannten Kriterien kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass die zeitliche Befristung des nachehelichen Unterhalts bis zum Erreichen des 16. Altersjahrs des gemeinsamen Sohnes angemessen ist. Das eheliche Zusammenleben der Beschwerdeparteien dauerte sieben Jahre. Wäre nachehelicher Unterhalt – wie von der Beschwerdeführerin gefordert – bis zum Erreichen ihres ordentlichen Rentenalters geschuldet, wäre der Kindsvater demgegenüber während mehr als 25 Jahren unterhaltspflichtig, was nicht verhältnismässig wäre. Auch der pauschale Einwand der Beschwerdeführerin, der langjährige, ehebedingte Arbeitsunterbruch im Zusammenhang mit ihren gesundheitlichen Einschränkungen habe sich auf ihre ökonomische Selbständigkeit verheerend ausgewirkt, reicht gemäss Bundesgericht nicht aus, eine Unterhaltspflicht bis hin zum Eintritt ins ordentliche Rentenalter zu rechtfertigen. Zuletzt macht das Bundesgericht darauf aufmerksam, dass die Beschwerdeführerin gerade nicht geltend mache, dass ihr keine geeigneten Aus- und Weiterbildungsangebote offenstehen, die zur Steigerung ihrer Erwerbskraft beitragen könnten. Vor diesem Hintergrund ist eine Befristung der nachehelichen Unterhaltspflicht angemessen.

In diesem Sinne bestätigte das Bundesgericht das Urteil der Vorinstanz mit Ausnahme des Zeitpunkts, per wann der nacheheliche Unterhalt geschuldet ist.

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Stichworte: Unterhalt, Scheidung, Kinder, Unterhaltszahlung, Beginn, Ende, Nachehelicher Unterhalt